Freitag, 17. Februar 2012

Wulffs Vermächtnis



Zurückgetreten.

Der Christian. Bundespräsi von Muttis Gnaden.

Wurde aber auch Zeit, sagen die meisten.

Hmm.

Wenn von Christian Wulff eins im kollektiven Gedächtnis haften bleiben soll, dann bitte diese eine Rede! So konsequent hat kaum ein anderer deutscher Politiker der Gegenwart dem Finanzsektor ins Poesiealbum gekotzt.

DANKE!

Ich habe die Rede auf die wichtigen Aussagen reduziert, für alle, die gerne nur die Überschriften lesen, habe ich die wichtigen Stellen FETT gekennzeichnet. Das Allerallerallerwichtigste ist FETT und unterstrichen.

„Unser Europa muss uns alle Anstrengung wert sein“

Bundespräsident Christian Wulff
zur Eröffnung
der 4. Tagung der Wirtschaftsnobelpreisträger
am 24. August 2011 in Lindau

"... 

Unser Europa muss uns alle Anstrengung wert sein. Nichts ist
selbstverständlich. Nichts darf verspielt werden. Das Schicksal Europas
ist letztlich das Schicksal aller seiner Völker. Deutsche und europäische
Interessen sind nicht voneinander zu trennen, sondern zwei Seiten
einer Medaille. Das macht es so überaus notwendig, die gemeinsamen
Anliegen konsequent zu vertreten. Dieser Verantwortung in und für
Europa sind wir Deutsche uns bewusst.

...

In diesen Wochen zeigt sich in Europa und in den USA
überdeutlich: Die Banken- und Schuldenkrise hat die Politik, hat die
Regierungen und Notenbanken, an Grenzen gebracht. Die Aufgaben,
die Regierungen derzeit weltweit zu bewältigen haben, sind immens
und haben Auswirkungen auf die ganze Welt: Steigende Rohstoffpreise
und Lebensmittelpreise und Überhitzungen von Ökonomien, zum
Beispiel in den Schwellenländern. 

...

Als die Krise ausbrach, bestand auf globaler Ebene schnell
Einigkeit. Beschlossen wurden Konjunkturpakete in einem bislang nie
dagewesenen Ausmaß. Dem Finanzsektor und den Banken eilte man zu
Hilfe – mit Geld der Steuerzahler, Staatsgarantien und massiven
monetären Transfusionen durch die Notenbanken. Im Jahr 2008 galt
es, mit allen Mitteln den Kollaps zu verhindern und den Kreislauf des
Patienten Weltwirtschaft zu stabilisieren. Ich möchte hier daran
erinnern, dass das mit dem Vorsatz geschah, den Patienten
Weltwirtschaft dann aber auch baldmöglichst zu therapieren. Doch
immer noch ist der Bankensektor labil, sind die Staatsschulden in den
größten Volkswirtschaften auf Rekordniveau und die fundamentalen
Probleme für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit so präsent wie
zuvor. Es wurde mehr Zeit gewonnen als Zeit genutzt, um den
Patienten zu therapieren.

Auf dem Deutschen Bankentag hatte ich den Finanzsektor bereits
gewarnt. Wir haben weder die Ursachen der Krise beseitigt, noch
können wir heute sagen: Gefahr erkannt – Gefahr gebannt. Wir sehen
tatsächlich weiter eine Entwicklung, die an ein Domino-Spiel erinnert:
Erst haben einzelne Banken andere Banken gerettet, dann haben
Staaten vor allem ihre Banken gerettet, jetzt rettet die
Staatengemeinschaft einzelne Staaten. Da ist die Frage nicht unbillig:
Wer rettet aber am Ende die Retter? Wann werden aufgelaufene
Defizite auf wen verteilt beziehungsweise von wem getragen?

...

Nach meiner Überzeugung bedeuten alle notwendigen
Problemlösungen, wie immer sie aussehen, Zumutungen -
Zumutungen für alle Beteiligten. So einfach ist es in der Demokratie
und zugleich so schwierig. Aber eine gute Zukunft wird es nur geben,
wenn wir langfristig zurückfinden zu solidem Wirtschaften. Das wird
Einschnitte bedeuten, die schmerzhaft sind. Langfristig wird aber nur
dies Handlungsfähigkeit und Wohlstand bewahren. Wichtig dabei ist,
dass die Lasten fair verteilt werden. Ich verstehe, dass viele nicht
nachvollziehen wollen, dass Bankmanager zum Teil exorbitant
verdienen, dass aber zugleich Banken mit Milliarden gestützt werden.
Und Trittbrettfahrer in der Finanzwelt spekulieren weiterhin darauf, von
der Politik und damit letztlich von Steuerzahlern aufgefangen zu
werden – weil sie zum Beispiel zu groß sind und zu relevant für den
gesamten Wirtschaftskreislauf.

Ich erinnere, wie mir, als ich in Ihrem Alter war, ein Unternehmer
erzählte, er hätte von seinem Vater gelernt: „Wenn Du einen kleinen
Kredit aufnimmst, dann hat Dich die Bank in der Hand. Wenn der
Kredit eine bestimmte Größe erreicht, dann hast Du die Bank in der
Hand.“ Und wenn die Bank eine bestimmte Größe hat, scheint es jetzt
so zu sein, dass sie den Staat in der Hand hat. Und das empfinden die
Menschen zu Recht als unfair - so wie es der Volksmund sagt: „Die
Kleinen fasst man, die Großen lässt man laufen.“ Ungleichheiten sind
wichtige Antriebskräfte, wenn sie nicht zu groß werden. Sie werden
dann aber nicht akzeptiert, wenn Gewinne privatisiert werden, Verluste
jedoch kollektiviert, sozialisiert, auf alle abgeladen werden. Hier geht
es um prinzipielle Fragen. Menschen reagieren empfindlich, wenn
Fairnessprinzipien verletzt werden. Fairness ist ein Urbedürfnis des
Menschen. 

...

Das Versagen von Eliten bedroht langfristig den Zusammenhalt in
der Gemeinschaft, in der Gesellschaft. Wer sich zur Elite zählt und
Verantwortung trägt, darf sich eben auch nicht in eine eigene
abgehobene Parallelwelt verabschieden. Sondern jede, jeder hat
Verantwortung für das Ganze und für den Zusammenhalt in einem
Land. Dass es nicht fair zugeht und Lasten einseitig verteilt werden,
dieses Gefühl haben aber immer mehr Bürgerinnen und Bürger.

...

Statt klare Leitplanken zu setzen, lassen sich Regierungen immer
mehr von den globalen Finanzmärkten treiben. Wenn der Dax, der
Börsenindex fällt, sollen Politiker ihren Urlaub abbrechen. Wenn es gut
läuft, war es die Wirtschaft, wenn es nicht so gut läuft, ist es die
Politik. Das kann nicht die Aufgabenteilung in der Gegenwart und
Zukunft sein. Immer öfter treffen die Politiker eilig weitreichende
Entscheidungen kurz vor Börsenöffnung, anstatt den Gang der Dinge
längerfristig zu bestimmen. Dies trifft Demokratien in ihrem Kern.

...

Zuerst: Politik muss ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Sie
muss sich endlich davon lösen, hektisch auf jeden Kursrutsch an den
Börsen zu reagieren. Sie muss sich nicht abhängig fühlen und darf sich
nicht am Nasenring durch die Manege führen lassen, von Banken, von
Ratingagenturen oder sprunghaften Medien. Politik hat Gemeinwohl zu
formulieren, mit Mut und Kraft im Konflikt mit Einzelinteressen. Politik
hat Strukturen zu ordnen und gegebenenfalls den Rahmen
anzupassen, damit knappe Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden
und Wirtschaft und Gesellschaft gedeihen. Politik hat langfristig
orientiert zu sein und, wenn nötig, auch unpopuläre Entscheidungen zu
treffen. In freiheitlichen Demokratien müssen die Entscheidungen im
Übrigen immer von den Parlamenten getroffen werden. Denn dort liegt
die Legitimation. In der Demokratie geht die Macht vom Volke aus,
durch in Wahlen und Abstimmungen gewählte Repräsentanten und
Abgeordnete.

...

Mich stimmt nachdenklich, wenn erst im allerletzten Moment
Regierungen Bereitschaft zeigen, Besitzstände und Privilegien
aufzugeben und notwendige Reformen einzuleiten. Erst recht, wenn die
obersten Währungshüter dafür auch noch weit über ihr Mandat
hinausgehen und massiv Staatsanleihen - derzeit im Volumen von über
110 Milliarden Euro - aufkaufen. Das kann und das wird auf Dauer
nicht gut gehen und kann allenfalls übergangsweise toleriert werden.
Auch die Währungshüter müssen schnell zu den vereinbarten
Grundsätzen zurückkehren. Ich sage es hier mit Bedacht, ich halte den
massiven Aufkauf von Anleihen einzelner Staaten durch die
Europäische Zentralbank für politisch und rechtlich bedenklich. Artikel
123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
verbietet der EZB den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln, um ihre
Unabhängigkeit zu sichern. Dieses Verbot ergibt nur dann Sinn, wenn
die Verantwortlichen es nicht durch umfangreiche Aufkäufe am
Sekundärmarkt umgehen. Der indirekte Kauf von Staatsanleihen ist im
Übrigen auch noch teuerer als der direkte. Wieder verdienen
Finanzmarktakteure Provisionen ohne ein eigenes Risiko zu tragen.
Ein Grundprinzip der Marktwirtschaft ist, dass Risiko und Haftung
Hand in Hand gehen. Wer Risiken eingeht, kann auch scheitern. Dieses
Prinzip muss auch für den Finanzsektor gelten, für kleine Anleger wie
für große Institute. Hier muss Versäumtes dringend nachgeholt werden
– weit über das hinaus, was in der G20 bisher angestoßen worden ist.
Am Ende kommt es darauf an, dass wir alle gemeinsam durchsetzen,
dass der Finanzsektor wieder in seine dienende Rolle zurückfindet und
zu einer nachhaltigen globalen Entwicklung beiträgt. Wir brauchen gut
funktionierende, leistungsfähige globale Kapitalmärkte, die dabei
helfen, Risiken zu beherrschen, anstatt sie zu schaffen. Und die Kapital
und Ideen zusammenbringen – Ideen zur Lösung der großen Aufgaben,
vor denen die Welt steht.

...

Ich möchte zum Schluss wieder zu meinem Anfangsbild
zurückkehren. Wir sollten uns fragen, wo wir in 50 Jahren stehen
wollen, was wir für die kommenden Jahrzehnte wirklich als wichtig
empfinden. Was macht Wohlergehen letzten Endes aus, was dient dem
Allgemeinwohl? Und was erweist sich als dauerhaft und nachhaltig?
In den Wissenschaften gibt es keinen Konsens, wie man
persönliches Wohlergehen am besten misst. Doch verschiedene
Indikatoren, die die persönliche Lebensqualität von Menschen zu
erfassen versuchen, zeigen, dass das Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts allein nicht zu einer Steigerung des
Glücksgefühls führt. Immer dann, wenn die materiellen
Grundbedürfnisse erfüllt sind, scheint nicht mehr das materielle „Mehr“
entscheidend für die Zufriedenheit zu sein, sondern vielmehr die
Möglichkeit, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sich frei
und in stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen entfalten zu können.
Wohlstand hieße dann vor allem, die Chance zu haben, ein
gedeihliches, sinnerfülltes und kreatives Leben zu führen. Viele, viele
Menschen wünschen sich das, und ich begrüße sehr, dass die
Wissenschaft menschliches Verhalten, dessen psychologische und
soziologische Grundlagen endlich stärker experimentell erforscht.

...

Einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika,
der dritte Präsident, Thomas Jefferson, hat im Sommer 1816, also vor
nicht einmal 200 Jahren, festgehalten:

„Wir haben die Wahl zwischen Sparsamkeit und Freiheit, oder
Überfluss und Knechtschaft." 

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen - in
diesem Sommer 2011, dem Sommer der Ernüchterung, der aus meiner
Sicht zwingend den Beginn einer Rückbesinnung markieren muss.
Dann hätten wir wirklich aus den Krisen gelernt.

Vielen Dank."

1 Kommentar:

  1. Um so schlimmer, daß er sich jetzt wahrscheinlich als Selbstbediener erweist

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